Wir bauen nun schon das zweite Jahr Gemüse an, mittlerweile für über 200 Menschen, bald sind die letzten Abos vergeben. Ein guter Moment, um, nebst Gemüse- und Projekt-Wachstum, auch dem Bewusstseins-Wachstum einige Gedanken zu widmen...

Erst mal aber doch noch Bericht vom Felde

Es war ein anspruchsvoller Frühling. Durch die lange Kälte und Nässe konnten wir erst sehr viel später aufs Feld und dem entsprechend ist das Gemüse im Rückstand... Im Tunnel wuchsen zum Glück die ersten Kohlrabi und Fenchel am Schärme und Anfang Juni, wo wir letztes Jahr schon Rüebli, Broccoli, Kefen in den Taschen hatten, waren dieses Jahr vor allem Salat und Radiesli, dann aber auch schon die ersten Kräuter, Frühlingszwiebeln und Winterknoblauch erntereif. Nun, das Wetter lässt sich zum Glück nicht ändern und wir lernen gerade sehr konkret, was saisonal ist, und was möglich ist, beim Gemüseanbau ohne geheizte Gewächshäuser. Dafür ist die Freude und Wertschätzung über die ersten Kefen und Kohlrabi dann um so grösser!

An der letzten Hauptversammlung entstanden einige Arbeitsgruppen: die Kräutergruppe hat vorne am Feld einen wunderschönen Kräuter- und Blumengarten angelegt, so dass unser Kräuter-Sortiment um einiges wachsen wird. Die Beerengruppe hat eine Zeile Himbeeren und Brombeeren angelegt, vorerst einfach zum Schnouse auf dem Feld, und die Pilzgruppe macht Versuche mit ersten Pilzstämmen.

Woran wir auch noch sind

Es entstehen laufend neue Fragen: Wie können wir beim Verpacken möglichst wenig Plastik verbrauchen? Woher beziehen wir unseren Strom? Könnten wir da Möglichkeiten finden mit Solarzellen? Wäre es möglich, die Taschen ohne Autos zu verteilen? Wären weitere Zusatzabos wünschenswert: Getreide, Eier, Michprodukte... wäre es gut, mehr Land zu haben?

Es ist eine Fähigkeitenbörse entstanden, wo die radieslis auf die Fähigkeiten ihrer Mit-radieslis zurückgreifen können und seit Kurzem gibt es eine Bücher und Medientauschkiste...

Ein Angebot für Schulklassen ist entstanden, Arbeitsmöglichkeiten für eine IV Bezügerin und einen Langzeitarbeitslosen.

Vom Wert der Dinge

Für mich ist das radiesli viel mehr als der Ort, wo mein Gemüse herkommt. Vielmehr ist es für mich ein Versuch, ein Experiment, auch wirtschaftlich umzudenken: Vom "ich und ihr" zum WIR, ich bin nicht Kunde oder ProduzentIn, es gibt keinen Preis fürs Gemüse, aber den Wert eines Betriebes... ich stelle fest, wie sehr ich immer wieder in alte Muster, die Dinge zu betrachten, zurückfalle, und merke, dass es nicht reicht, anfänglich einmal schöne Statuten und Grundsätzliche Gedanken zu formulieren und auf die Homepage zu stellen, oder diese zu lesen und toll zu finden, sondern dass es der täglichen Übung bedarf, dass es wichtig ist, immer wieder darauf zurück zu kommen und die Dinge von Grund auf neu zu denken.

Hier ein Versuch

Im radiesli zahlen wir Betriebsbeiträge. Wir rechnen aus, was es kostet, den Betrieb ein Jahr lang am Laufen zu halten, Saatgut zu kaufen, GärtnerInnen zu bezahlen... Diesen Betrag teilen wir durch die Anzahl Abos, die wir (auch das lediglich ein Beschluss) haben können und das gibt dann den Betriebsbeitrag pro Abo. Was der Betrieb abwirft, was geerntet werden kann, teilen wir. Das ist solidarisch. Es gibt nicht einen Produzenten, der Einbussen hat, weil der Frühling so spät gekommen ist oder weil er Hagelschaden hatte, sondern 200 Menschen, die alle eine Zeit lang etwas weniger Gemüse ernten und essen können. Wenn die Ernte reich ist, verdient nicht ein Produzent viel mehr, sondern 200 Menschen erfreuen sich am Überfluss. Es gibt keine Salatladungen und Hunderte von Setzlingen, die nicht verkauft werden können und deswegen kompostiert werden müssen, alles wird verteilt, gegessen, eingetauscht oder verschenkt...

Das alles bedeutet schlussendlich: Wir können nicht sagen, was ein Kilo Rüebli kostet, und was ein Salat. Die uns gewohnte Denkweise (Wir rechnen aus: 1100.– pro Jahr, das gibt ca 22.– pro Woche, eine Tasche kostet also 22.– . Wenn dann, wie in diesem Frühling nur wenig in der Tasche zu finden ist , sind 22.– zu viel...) ist nicht anwendbar.

Dafür überlegen wir Ende Jahr, ob das Gemüse, das wir ein Jahr lang auf unserm Feld geerntet haben, für uns alle reicht, ob der Arbeitsaufwand in einem guten Verhältnis zur Ernte steht, wir uns mit dem Geld, das uns der Betrieb kostet, mehr erhofft haben und wenn ja, was wir ändern können. Wenn wir zu viel Gemüse hatten, können wir beschliessen, mehr Abos zu verteilen, zu einem tieferen Preis.

Das radiesli ist genossenschaftlich organisiert: wir tragen den ganzen Betrieb auch finanziell gemeinsam, wir alle zusammen bestimmen, was und wie angebaut wird, UND wir stimmen auch über das Budget ab. Es geht nicht mehr, zu sagen, ich finde das Abo zu teuer, weil: ich kann mitbestimmen, was es kostet. Ich kann mitbestimmen, was wir genau mit den Betriebsbeiträgen machen. Das ist unbequem. Ich muss mich dann nämlich sehr viel genauer damit auseinander setzen.

Wenn wir also z.B. finden, das Abo ist zu teuer, es gibt zu wenig Gemüse, gilt es zu überlegen, warum: Arbeiten die Mitglieder zu wenig auf dem Feld? Planen die Gärtnerinnen schlecht? Brauchen wir mehr Land? Wir können beschliessen, die Betriebsbeiträge zu senken. Das heisst dann, dass wir z.B. den Gärtnerinnen weniger Lohn zahlen. Oder dass wir weniger Gärtnerinnen-Prozente haben wollen und dafür alle mehr auf dem Feld arbeiten. Dass wir anderes, günstigeres Saatgut kaufen, u.s.w

Ich finde es spannend, auch im Kleinen achtsam zu werden, im Alltag, in der Sprache:

  • vor Kurzem hat jemand nach dem Verpacken noch ein paar übrige Setzlinge mit nach Hause genommen, weil die sonst auf dem Kompost gelandet wären und wollte dafür etwas in die Kasse tun... wir brauchten ein paar Sekunden, um dann zu merken: Äh nein, die Setzlinge sind ja schon längst bezahlt, sie gehören nicht der Gärtnerin, sie gehören uns allen.
  • Habt ihr irgendwo eine Schaufel? — Haben wir irgendwo eine Schaufel?
  • Das Gemüse wird nicht geliefert, liefern tun Produzenten an Kunden, wir verteilen es.....

Die Herausforderung an einem Projekt wie diesem ist: Ich kann das, was mich stört, nicht mehr so einfach nach aussen abwälzen, weil es nicht "ich" und "ihr", Kunden und Produzenten gibt, sondern bin gefordert, aktiv zu werden, Veränderungen vorzuschlagen, Entscheidungen mit zu tragen.

Und nicht zuletzt hat auch dies für mich sehr viel Wert:

Mit diesem Projekt und unserem Geld erschaffen wir einen Ort, wo nebst unserem Gemüse noch ganz andere Möglichkeiten wachsen: Schulklassen arbeiten auf dem Feld mit, Menschen in besonderen Lebensumständen (IV BezügerInnen, Arbeitslose, ...) finden eine Struktur, wo sie nach ihren Möglichkeiten etwas beitragen können, und ich begegne auf dem Feld den unterschiedlichsten Menschen, was meinen Horizont ungemein erweitert :)

Wachstumsbericht 08

Bedenkenswert:
"Ein richtiger Preis ist dann vorhanden, wenn jemand für ein Erzeugnis, das er verfertigt hat, so viel als Gegenwert bekommt, dass er seine Bedürfnisse, die Summe seiner Bedürfnisse, worin natürlich eingeschlossen sind die Bedürfnisse derjenigen, die zu ihm gehören, befriedigen kann so lange, bis er wiederum ein gleiches Produkt verfertigt haben wird."
Rudolf Steiner, 29.07.1922, im 6. Vortrag des "nationalökonomischen Kurs"

Das ist insofern sofort umsetzbar, als dass ich beim Kaufen eines Produktes mir die Empfindung aneignen kann, dass ein Anderer vorher bezahlt hat, um die Produktion zu ermöglichen und dass ich bezahle, damit der Produzent nach eigenem Ermessen für einen weiteren Menschen produzieren kann. Ich gebe dann einem Menschen Geld, damit dieser für einen mir Unbekannten arbeiten kann... Möglichst wenig bezahlen wird irgendwie komisch.

Wir wünschen Euch einen Wunder-vollen Sommer !

Mit herzlichem Gruss für die ganze Betriebsgruppe: Marion


PDF des Wachstumsberichts Nr. 8 vom Juli 2013